„Warum wurde ich ausgelassen? Was bedeutet es, zu überleben?
Ich stelle mir diese Frage nach wie vor. Ich denke, ich habe mich zu einem vernünftigen, anständigen Menschen entwickelt. Mit der Hilfe anderer anständiger Menschen habe ich irgendwie wieder Hoffnung auf die Zukunft entwickeln können. Ich habe geheiratet und Kinder großgezogen, die selbst anständige Menschen geworden sind. Ich habe Geld verdient - und verloren - und, je nachdem, gebe ich es aus oder verschenke es. Beides macht mir große Freude, doch ich habe mir nie Gedanken über meine Fähigkeit gemacht, für mich selbst zu sorgen. Ich habe es lange Zeit einfach getan. Was ich mehr als alles andere brauche, ist, geliebt zu werden. Ich bin immer auf der Suche nach Liebe, selbst jetzt noch. Ich glaube, ich bin über den Verlust meiner Mutter nie hinweggekommen. Über achtzig Prozent der polnischen Juden wurden in die Lager, Vernichtungsstätten und Erschießungsgruben der Nazis verschleppt und kamen dort gewaltsam zu Tode. Zwanzig Prozent versuchten, zu überleben; nur die Hälfte hat es geschafft. Ich war unter den zehn Prozent polnischer Juden, die den Holocaust überlebt haben. Ich habe immer Liebe gebraucht, habe es gebraucht, geliebt zu werden. Mama, ich habe Berlin erobert, aber du hast mir beigebracht, dass der Sitz unserer größten Triumphe das Herz ist.“ (Sabina van der Linden-Wolanski: Drang nach Leben. Erinnerungen, hrsg. von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2010, Seite 225 f.)
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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