Kein historisches Sachbuch, sondern ein preisgekrönter Wenderoman ist Lutz Seilers Buch „Stern 111“. Seiler, er hatte 2014 mit „Kruso“ den Deutschen Buchpreis gewonnen, gewann 2020 mit diesem Buch den Preis der Leipziger Buchmesse.
Sein Alter Ego Carl steht im Mittelpunkt der Erzählung. Kurz nach dem Fall der Mauer verlassen dessen Eltern das alte Leben in Gera. Carl soll ihre Wohnung übernehmen, doch den zieht es nach Berlin. Wie der Autor des Buches landet Carl in Berlin-Mitte in der Oranienburger Straße und ist beteiligt am anarchischen Chaos der Hausbesetzer und Künstler in der wilden Nachwendezeit. Carl trifft seine Jugendliebe Effi wieder, „die einzige Frau, in die er je verliebt gewesen war“, und trennt sich später von ihr. Ganz nebenbei erzählt er die Geschichte seiner Eltern, die das Los von Flüchtlingen ertragen müssen, in Notaufnahmelagern landen und als „Ostpack“ mit Bürokratie und Fremdenfeindlichkeit zu kämpfen haben, bis sie schließlich in die USA auswandern können und ihrem Sohn erst dann ihr Lebensgeheimnis offenbaren, was auch den Titel des Buches erklärt. „Die Assel“, die Carl mit aufbaut und dort kellnert, ist Ausgangspunkt im Nachwendeberlin, das brillant und nachvollziehbar geschildert wird. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann sich beim Lesen in den Mythos einer noch nicht so lange vergangenen Zeit hineinversetzen. Das „Tacheles“, der „Eimer“ und viele der Locations in der Nähe sind inzwischen verschwunden. Auch die Assel gibt es so nicht mehr. Die gesamte Oranienburger Straße hat nichts mehr mit jener Zeit und mit der damaligen speziellen Aufbruchsstimmung einer Gegenkultur zu tun. Der Charme ist unwiederbringlich verloren. „Die wilden Zeiten sind vorbei, nicht wahr?“, resümiert dementsprechend die Ziege Dodo am Ende des Buches. Könnte aber auch sein, dass Carl sich nur eingebildet hat, dass Dodo reden kann. Die wilden Zeiten waren allerdings wirklich vorbei. Ausgesprochen packend erzählt und sicherlich nicht nur für Nostalgiker lesenswert. Ernst Reuß Lutz Seiler, Stern 111, Suhrkamp Verlag , Berlin 2020, 528 Seiten, 24,00 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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