„Es ist überraschend, dass 75 Jahre nach Kriegsende immer noch neue, interessante Quellen zur Zeit des Nationalsozialismus und zum Ende des Zweiten Weltkriegs auftauchen.“, schreibt der Verleger Wieland Giebel in seinem Vorwort. Ausgegraben wurden von ihm die Tagebücher Curt Cowalls, eines Verlegers aus Berlin-Kreuzberg. Herausgegeben werden die Tagebücher aus den Jahren 1940 bis 1945 von einem Neffen Cowalls, der die Aufzeichnungen seines Onkels inzwischen besitzt und sich die Mühe gemacht hat, sie auszuwerten und zu kommentieren.
Cowall wurde durch die Nazis reich, für die er in seinem „Wirtschafts-Werbeverlag“ Propagandawerke unter die Leute brachte. Noch 1944 machte Cowall 100 000 Reichsmark Gewinn. Anfänglich begeistert er sich für die militärischen Erfolge. Seine Tagebucheinträge sind oft mit Zeitungausschnitten garniert, die häufig im Faksimile abgedruckt wurden. Am 12. Juli 1940 schrieb er euphorisch: „Noch ist England – der letzte Gegner – noch nicht besiegt (…) Doch niemand zweifelt, daß der Tag kommt, an dem der deutsche Adler auch dem britischen Löwen den Garaus macht.“ Die ersten Zweifel gibt es anscheinend, als Rudolf Heß plötzlich von der Nazipresse als Wahnsinniger dargestellt wird. Er schreibt: „Wenn jemand (…) gesagt hätte, R. Heß ist geistesverwirrt, wäre er sofort ins K.Z. gekommen!“ Eine ernsthafte Reflektion mit dem Hitlerregime findet in seinen Tagebüchern jedoch anfangs nicht statt. Er hofft immer noch auf den versprochenen Sieg. Zum Schluss verdammt er seine Geschäftspartner als auch ihn der Krieg erreichte und seine Kreuzberger Verlagsgebäude in der Ritterstraße 71-75 zerstört wird. Am 1. März 1945 schreibt er: „Wir sind ja mit unseren Nerven so hin mit dem Terror aus der Luft, daß wohl kein Berliner mehr sagen kann, er zittere nicht, wenn es oben in der Luft brummt.“ Ausgesprochen interessant und eindringlich seine Schilderungen der Schlacht um Berlin, in der auch der einfache Berliner um sein Überleben kämpft. Als der Untergang nicht mehr aufzuhalten ist fühlt er sich plötzlich „an der Nase herumgeführt“ und „auf das Schmählichste missbraucht“. Diejenigen, denen er anfangs bei ihren Siegen euphorisch zugejubelt hat, sind am 21. März 1945 nun „Scharlatane und Dummköpfe“. Am 28. April 1945 kommt er zur späten Erkenntnis: „Verbrecher haben uns regiert von 1933 an“ und „Deutschland hatte von 1933 an nur einen Feind - und dieser heißt Hitler!“ Überfällige Erkenntnis eines der vielen Mitläufer, der auch Parteimitglied war, was er jedoch nach dem Krieg leugnet. Das Buch endet mit einem wehleidigen Tagebucheintrag vom 1. Juni 1945: „Was kommt nun? Wie werden diesmal die Sieger mit uns umgehen, die wir doch als Volk im Ganzen gesehen diesen verfluchten Krieg nie gewollt haben?“ Ernst Reuß Peter Dörp (Herausgeber) Die Tagebücher des Verlegers Curt Cowall 1940-1945, Von Hitler in Paris bis zur Schlacht um Berlin, Berlin Story Verlag, Berlin 2020, 300 Seiten, 19,95 € Comments are closed.
|
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
|