Obwohl die SS in der Nachkriegszeit, als Gegenpol zur angeblich sauberen Wehrmacht, zum Sinnbild des Bösen im Zweiten Weltkrieg mutierte und deshalb gleichzeitig der Verdrängung diente, machten viele SS-Veteranen in der Bundesrepublik Karriere. Vor allem die „Organisation Gehlen“, Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes, bot ihnen die Möglichkeit im „Kalten Krieg“ ihr „Know How“ einzubringen. Auch das Bundeskriminalamt war allzu gerne bereit SS-Angehörige einzustellen, so dass gegen Ende der 50er-Jahre über zwei Drittel der leitenden Beamten des kriminalpolizeilichen Vollzugsdienstes ehemalige „SSler“ waren. Mit gegenseitigen „Persilscheinen“ wusch man sich rein. Zwar wurde die SS vom Internationalen Militärgerichtshof als verbrecherische Organisation eingestuft, aber SS-Angehörige kämpften trotzig für ihre Rehabilitierung.
Der vom Hannah-Arendt-Institut in Dresden herausgegebener Sammelband „Die SS nach 1945“ untersucht Netzwerke und Aktivitäten der Nachkriegszeit. Die einzelnen Beiträge des Buches stammen aus einem 2013 stattgefunden Workshop des Instituts für Totalitarismusforschung. Sie reihen sich in die Untersuchungen personeller Kontinuitäten in staatlichen Behörden, die erst in den letzten Jahren ernsthaft begonnen worden sind. Alt-Nazi Paul Carell, ehemaliger SS-Obersturmbannführer und Pressechef des Außenministers Ribbentrop, versuchte nach Kriegsende in Büchern und Zeitungsartikeln die SS zu verharmlosen. Der Bestsellerautor Carell arbeitete für den Spiegel, die Zeit sowie für dem Axel Springer Verlag und schrieb seine Sicht des Zweiten Weltkriegs auf. Er gehörte zur „Kriegsverbrecherlobby“ die meist aus alten Kameraden bestand. Vor allem die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS“ (HIAG) machte mit ihrem „Referat Kriegsgeschichte“ Politik und publizierte unverdrossen ihren Blick auf die Weltgeschichte. Lange hatten sie die Deutungshoheit über die Geschichte der Waffen-SS, die aus ihrer Sicht ein vollkommen ehrenwerter Verband gewesen war, genauso wie die Wehrmacht. Das hat Auswirkungen bis zum heutigen Tag, da auch seriöse Historiker auf diese Verherrlichungsschriften als vermeintlich einzige Quelle zurückgriffen Auch in Film und Fernsehen waren die ehemaligen SS-Angehörigen aktiv und ließen wiederum alte Kameraden als Zeitzeugen auftreten. Das führte über lange Jahre zu einer Verzerrung der Tatsachen. Beispielsweise wurde Joachim Peiper, der ehemalige Adjutant Himmlers und rechtmäßig als Kriegsverbrecher Verurteilte glorifiziert, als er 1976 in Frankreich wahrscheinlich einem Attentat zum Opfer fiel. Man bedauerte den armen alten Mann und seine Verurteilungen als Kriegverbrecher wurden von Zeit und Spiegel in Frage gestellt. In Belgien und Italien war Peiper als Kommandeur an Massakern beteiligt gewesen. Er wurde deswegen 1946 zum Tode verurteilt, was nachträglich in eine Haftstrafe umgewandelt worden war, aus der er 1956 entlassen wurde. Auch in der Wissenschaft waren SS-Veteranen zugange. Der Professor an der Universität Bonn Günther Niethammer war Präsident der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft und galt als einer der bedeutendsten westdeutschen Ornithologen. Als Mitglied der SS, war er Teil der Wachmannschaft von Auschwitz, bis Lagerkommandant Höß ihn für „ornithologische Sonderaufgaben“ freistellte. Das ließ ihn nach dem Krieg von den „seligen Auschwitzer Zeiten“ schwärmen, in völliger Verdrängung dessen, was dort geschehen war. Die Geschichtsklitterung hat jedoch noch kein Ende, denn in einigen Ländern des früheren Ostblocks werden heute die Angehörigen der Waffen-SS als Widerstandskämpfer gegen die verhassten Sowjets erneut verherrlicht. Rechtsextreme glorifizieren die Waffen-SS als gesamteuropäische Armee, denn es waren ironischerweise ausländische Verbände der Waffen-SS, die das letzte Aufgebot in Berlin stellten, um Hitler in seiner Reichskanzlei zu beschützen und dabei auch noch viele Verbrechen begingen. In Estland ist der Kriegsschauplatz der „Schlacht um Narva“ ein Wallfahrtsort von Ex-SSlern aus allen Teilen Europas geworden. Auch in der Ukraine gelang es ehemaligen SS-Angehörigen einen Soldatenfriedhof der SS-Panzer-Division „Wiking“ zu einem SS-Erinnerungsort umzufunktionieren. Gerade in heutigen Zeiten in denen ein Fraktionsvorsitzender in deutschen Bundestag das Recht einfordert: „stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“, der von der NS-Vergangenheit als „Vogelschiss“ spricht und ein Europaabgeordneter sich noch vor ein paar Jahren in einer Rede „vor den tapferen Soldaten der Waffen-SS“ verneigen wollte, ist Wachsamkeit angebracht, um zu verhindern, dass sich erneut ein vollkommen überholtes apologetisches Geschichtsnarrativ breitmacht. Ernst Reuß Jan Erik Schulte, Michael Wildt (Hg.): Die SS nach 1945. Entschuldungsnarrative, populäre Mythen, europäische Erinnerungsdiskurse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018. 451 Seiten. 45 Euro Comments are closed.
|
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
|