Schon kurz nach ihrer Befreiung hatten sich jüdische Überlebende des Massenmords in lokalen Gruppen zusammengeschlossen. Damals wurden die von den Deutschen Verschleppten aus aller Herren Länder in den Camps der sogenannten „Displaced Persons“ gesammelt, um „repatriiert“ zu werden. Viele von ihnen waren im „Zentralkomitee der befreiten Juden in der amerikanischen Zone“ mit Sitz in München organisiert. Deren Historische Kommission, unter ihrem Leiter Moshe Feygenboym, sammelte Zeitzeugenberichte, aber auch Fotos, Witze, Gerüchte, Lieder und Anekdoten, die damals in den Ghettos und Lagern kursierten. Es gab Aufrufe, Fragebögen und Aufsatzwettbewerbe, mit denen die Überlebenden motiviert werden sollten auch über ihren Alltag, die Verfolgung und Ermordung in ihren Heimatorten und in zahllosen Gettos und Lagern Zeugnis abzulegen. Ein Plakat lautete: „Jude! Erfülle Deine Pflicht gegenüber den kommenden Generationen. Berichte der Historischen Kommission von Deinem Überleben der Konzentrationslager, im Versteck, über das Leben der Partisanen, sodass Deine Kinder den weg Deines Martyriums kennen werden.“ Der Holocaust sollte nicht nur von den Alliierten, sondern auch aus der Opferperspektive dokumentiert werden.
Gesammeltes Material wurde ab 1946 in der jiddischsprachigen Zeitschrift „Fun letstn Churbn“ (Von der letzten Zerstörung) veröffentlicht. Dort publizierte Israel Kaplan, selbst ein Überlebender, zahlreiche Zeitzeugenberichte. Er und seine Mitstreiter schufen somit ein Forum für die Opfer des Holocaust und würdigten dabei auch den jüdischen Widerstand. Der Schwerpunkt der Berichte lag auf den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas. Insgesamt erschienen bis 1948 zehn Ausgaben. Nach dem Krieg fanden sie jedoch nur wenig Verbreitung, was wohl daran lag, das man vorwärts und nicht rückwärts blicken wollte oder konnte - aber auch an der Sprache der Publikation. Vieles aus der Sammlung wurde in der Zeitung veröffentlicht, aber nicht alles. In der Zeitschrift gab es auch viele beeindruckende, bis heute weitgehend unbekannte, Fotos von Deportationen, Massakern und vom Alltag in den Ghettos. Das letzte Foto des Malers Maurycy Trębacz, kurz vor seinem Tod durch Verhungern im Ghetto, hatte nur noch wenig mit dem vor Kraft strotzenden Mann nur wenige Jahre zuvor gemein. Die nun übersetzten, oft vergessenen Zeitzeugenberichte aus vielen Ghettos und Lagern bleiben ausgesprochen wertvoll für die Wissenschaft. Es gibt Berichte aus vielen Ghettos, aber auch aus Vernichtungslagern wie Sobibor oder vom Massaker an 45 Kindern im polnischen Kielce. Gegen Ende der 1940er Jahre lösten sich die DP Camps auf, so dass auch die Historische Kommission im Januar 1949 ihre Arbeit einstellte. Die gesamte Sammlung wurde später nach Israel geschickt und in der Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem verwahrt. Die Sammlung blieb auch dort viele Jahre nahezu unberührt, da nur wenige Historiker über jiddische Sprachkenntnisse verfügten. Umso wichtiger daher, die nun ins Deutsche übersetzten, historisch kostbaren Zeugnisse des Grauens. Mehr als 70 Jahre musste es dauern, bis die Zeitschrift dankenswerterweise von den Herausgebern auf Deutsch übersetzt und kommentiert wurde und nun im Metropol Verlag erschienen ist. Ein wichtiger Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Holocaust. Ernst Reuß Frank Beer/Markus Roth (Hg.), Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift „Fun letstn Churbn“ der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946–1948, Metropol Verlag, Berlin 2020, 1032 Seiten, 49 €. Aus dem Jiddischen von Susan Hiep, Sophie Lichtenstein und Daniel Wartenberg Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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