„Zur ärztlichen Behandlung ausschließlich von Juden berechtigt.“ Das stand seit Oktober 1938 auf den Praxisschildern, den Stempeln, den Rezepten und auf den Briefköpfen jüdischer Ärzte. Sie mussten sich mit einer jederzeit widerruflichen Ausnahmegenehmigung, die in Ausnahmefällen auf Vorschlag der Reichsärztekammer erteilt werden konnte, als „Krankenbehandler“ bezeichnen lassen. Allen anderen jüdischen Ärzten war die Zulassung entzogen worden.
Das Gesundheitssystem sei von Juden „gereinigt“, die „Ausschaltung“ der jüdischen Ärzte vollendet, erklärten die rassistischen Ärztefunktionäre. Rebecca Schwoch, eine Medizinhistorikerin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, hat in ihrer Habilitationsschrift nun erstmals Informationen zu 369 „Krankenbehandlern“ in Berlin zusammengetragen. Da schon im Kaiserreich den Juden öffentliche Ämter meist verschlossen blieben, studierten viele Juden Medizin oder Jura. Als Arzt oder Rechtsanwalt hatte man ein meist einträgliches Einkommen. In Berlin, mit entsprechend hohem jüdischem Bevölkerungsanteil, praktizierten die meisten jüdischen Ärzte. Bereits 1933 war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Kraft getreten, wodurch sich viele verbeamtete jüdische Ärzte genötigt sahen, sich um eine Kassenzulassung zu bemühen. Durch kurz danach erlassene Verordnungen wurden „nichtarischen“ und linken Ärzten die kassenärztliche Zulassung mit sofortiger Wirkung entzogen. Dasselbe galt für „verheiratete weibliche Ärzte“, wenn die „Ausübung der kassenärztlichen Tätigkeit zur wirtschaftlichen Sicherstellung der Familie nicht erforderlich erscheint“ oder wenn „ein Kassenarzt einen Ehegatten nicht arischer Abstammung heiratet oder nach dem 1. Juli 1933 geheiratet hat“. Für Frontkämpfer des ersten Weltkriegs machte das NS-Regime jedoch gewisse Ausnahmen. Anfangs gab es daher noch 7 000 jüdische Ärzte im Deutschen Reich, von denen 4 000 eine Kassenzulassung hatten. Man brauchte die jüdischen Ärzte noch, ohne sie wäre die ärztliche Versorgung zusammengebrochen. Neben den alltäglichen Drangsalierungen wollte man sie aber nach und nach gänzlich aus dem Gesundheitssystem ausschließen. Trotzdem wurden in Berlin 1938 noch mehr als 1500 jüdische Ärzte gezählt. Im Oktober desselben Jahres wurde dann mit der „Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ allen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen. Allerdings mussten Juden, die Zwangsarbeit leisteten oder mit einem „arischen“ Ehepartner verheiratet waren, weiterhin medizinisch versorgt werden. Das konnte man nach Nazilogik keinem „Arier“ zumuten. Außerdem wurde die krude Ansicht verbreitet, kranke Juden könnten als „Zersetzungs- und Fäulnisherd“ den „arischen Volkskörper“ infizieren, wenn sie mit „Ariern“ in Berührung kämen. So kam es zur Deklassierung jüdischer Ärzte als „Krankenbehandler“. Die Bildung von Praxisgemeinschaften oder -vertretungen zwischen „arischen“ und „nichtarischen“ Ärzten war ihnen indes genauso verboten wie Überweisungen an „nichtarische“ Ärzte. Ein „Krankenbehandler“ hatte bei seiner Tätigkeit große ethische Zwangslagen zu bewältigen, denn eine Krankschreibung der Patienten konnte in späteren Jahren die sofortige Deportation bedeuten. Im Übrigen hatten die „Krankenbehandler“ immer häufiger „Transport- oder Arbeitsfähigkeit“ zu bescheinigen und daher über Leben oder Tod zu entscheiden. All das kann man mit einiger Mühe der wenig systematisch oder chronologisch aufbereiteten Studie von Rebecca Schwoch entnehmen. Anerkennenswert und verdienstvoll ist jedoch, dass trotz schwieriger Quellenlage durch Schwochs Arbeit nun die Lebenswege von insgesamt 369 „Krankenbehandlern“ aus Berlin nachvollzogen werden können. 82 von ihnen gelang noch nach 1938 die Emigration, einige wenige gingen in den Untergrund. 51 starben in Berlin, 14 davon durch Suizid. 193 „Krankenbehandler“ wurden deportiert und kamen zumeist in diversen Konzentrations- und Vernichtsungslagern um. Nur 53 Krankenbehandler überlebten die Nazizeit in Berlin, 46 von ihnen waren mit einem „arischen“ Partner verheiratet. Einer davon war der 1874 in Berlin geborene Wilhelm Paul Rosenstein, der bereits 1897 formalrechtlich aus dem Judentum ausgetreten war und eine Nichtjüdin heiratete. Er war im Ersten Weltkrieg Bataillonsarzt an der Front und erwarb dort Kriegsverdienskreuze. Als Lehrer für Gesundheitslehre an der Staatlichen Elisabeth-Frauenschule wurde er 1933 als „Nichtarier“ entlassen, aber 1938 als „Krankenbehandler“ offiziell anerkannt. 1935 hatte er sein Haus unter Wert an einen Reichsbankdirektor verkaufen müssen, um finanziell über die Runden zu kommen. Immerhin war er einer der wenigen, die die Nazizeit in Berlin überlebten. Nach dem Krieg war er Allgemeinarzt in Berlin. Von den lediglich 18 „Krankenbehandlerinnen“ sei Lucie Adelsberger genannt, die 1895 in Nürnberg geboren und an der Universität Erlangen ausgebildet wurde, aber seit 1924 als Internistin und Kinderärztin in Berlin arbeitete. Sie war Mitglied der Berliner Ärztekammer und bei der Säuglings- und Kinderwohlfahrt sehr engagiert. Bis 1938 betrieb sie eine Privatpraxis, danach war sie als „Krankenbehandlerin“ tätig. 1943 wurde sie nach Ausschwitz deportiert. Dort überlebte sie als Lagerärztin. Nach dem Krieg emigrierte sie in die USA und praktizierte als Ärztin in New York. Ernst Reuß Jüdische Ärzte als Krankenbehandler in Berlin zwischen 1938 und 1945, Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2018, 638 Seiten, 64,95 Euro Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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