Jürgen Gückel, ein in Rente gegangener langjähriger Gerichtsreporter des Göttinger Tageblatts, hatte nun die Zeit, sich mit seiner eigenen Geschichte zu befassen. Seit der Schulzeit beschäftigte ihn das Erlebnis, dass sein Lehrer scheinbar von Polizisten aus dem Unterricht abgeholt worden war. Gückel lebt heute wieder in seiner alten Heimat, dort wo sein erster Klassenlehrer Artur Wilke war, ein deutscher Massenmörder. Wilkes Name ist untrennbar mit abscheulichen Kriegsverbrechen verbunden. Er war in Weißrussland Befehlsgeber und kein Befehlsempfänger. Er durfte selbständig entscheiden, welches Dorf abgefackelt und wo die Bevölkerung massakriert wurde. Von diesem „Recht“ hatte er ausgiebig Gebrauch gemacht.
Artur war unter dem Namen seines im Krieg gefallenen Bruders Walter ins Dorf zurückgekommen. Zwar sei es seltsam gewesen, dass Walter als Handballer in den Krieg gezogen und als Fußballer zurückgekommen war, aber die Dorfgemeinschaft schwieg. Angeblich schöpfte niemand Verdacht. Seine „Nachkriegsfrau“ war die beliebte Landärztin. Er heiratet sie 1949, obwohl er schon verheiratet war und bei seinen Urlaubsbesuchen während des Krieges vier Kinder gezeugt hatte. Mutter und Kinder lebten inzwischen in der DDR. Als die Mutter starb, holte Wilke die Kinder zu sich, nun als Onkel. Kurz darauf gab er sie zur Adoption frei. Das beredte Schweigen im Dorf endete auch dann nicht, als Wilke 1961 von der Polizei abgeholt wurde. In einem anderen Prozess waren er und seine Taten aufgeflogen. In Rheinland-Pfalz hatte man nämlich den Bock zum Gärtner gemacht und Georg Heuser zum Leiter des Landeskriminalamts ernannt. Er war dabei auch für die Fahndung nach NS- Verbrechern zuständig. Man kann sich vorstellen, was das zu bedeuten hatte. Jedenfalls war das nicht untypisch für den juristischen und politischen Umgang mit der Vergangenheit in der Nachkriegsbundesrepublik. Nachdem der Massenmörder Heuser angeklagt worden war, suchte man nun auch nach dessen ehemaligen „Kameraden“ Artur Wilke und fand ihn als Volksschullehrer unter falschem Namen in seinem Heimatort Stederdorf, nun ein Ortsteil der Stadt Peine in Niedersachsen. Als er schließlich 1963 wegen Mordes an mindestens 6600 Menschen zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, wurde im Dorf nicht groß darüber geredet, obwohl es im „Spiegel“ und in der „Zeit“ ausführliche Reportagen gab. Späte, nach seiner Begnadigung, kehrte Wilke in sein Dorf zurück und lebte dort bis zu seinem Tod 1989. Bis zum Schluss zeigte er keinerlei Reue. Am Ende fühlte er sich als eine Art Märtyrer. Nicht er, aber elf seiner Opfer wurden vom Papst inzwischen als Märtyrerinnen selig gesprochen. Bei seinen Gesprächen mit Zeitzeugen machte Gückel die traurige Erfahrung, dass selbst heute kaum jemand über die Vergangenheit reden will. Ernst Reuß Jürgen Gückel, Klassenfoto mit Massenmörder, Das Doppelleben des Artur Wilke, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag , Göttingen 2019, 295 Seiten, gebunden, 25 Euro Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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