„Mit der Eroberung Berlins durch die Rote Armee kehrte der Zweite Weltkrieg zu seinem Ursprung zurück“.
So beginnt das Buch „Absturz zur Wirklichkeit, Die Eroberung Berlins 1945“. Der Historiker Christoph Schmidt, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität zu Köln, befasst sich darin jedoch nicht nur mit der Befreiung Berlins 1945, sondern hat eine fulminante Zusammenfassung und Interpretation von Zeitzeugenberichten und wissenschaftlichen Auseinandersetzung aus vielen Ländern (nicht nur) zu diesem Zeitabschnitt der Berliner Geschichte zustande gebracht. Insbesondere was die Befreiung Berlins betrifft, analysiert er äußerst kundig die unterschiedlichen Quellen und erstellt anhand von Zeitzeugenberichten ein Psychogramm des Berliner Zeitgenossen. Der sowjetische Aufmarsch entlang der Oder erstreckte sich über mehr als 300 Kilometer, weshalb die Bezeichnung „Schlacht um Berlin“ dem Geschehen nicht gerecht werden würde, so der Autor. Während die Leningrader Blockade 872, die Schlacht um Stalingrad 164 und der Warschauer Aufstand 63 Tage dauerte, gelang die Einnahme Berlins in nur neun Tagen. Schmidt schreibt: „Neun Tage Straßenschlacht - und das ‚Tausendjährige Reich‘ war passe. Einerseits nur neun Tage, andererseits fielen im Kampf um Berlin etwa 80 000 sowjetische Soldaten, vier Mal mehr als deutsche. Schmidt merkt an: „Keine andere Stadt hatten die Nazis so bedingungslos verteidigt, keine andere Stadt übte auf ihre Bewohner besonders in den bürgerlichen Vierteln einen solchen Druck aus, für keine andere Stadt des Auslands hätte die Rote Armee so viele Soldaten geopfert.“ Quellen und Sekundärliteratur zu dieser neuntägigen Schlacht sind zwar zahlreich, aber mit erheblichen Dunkelzonen versehen, die der Autor zu erhellen vermag. Er präsentiert sachliche, nachvollziehbare Analysen im historischen Kontext – von Vergewaltigungen, über den Uhrenklau der Rotarmisten bis zur Denunziationsfreudigkeit der Bewohner Berlins, wo nur wenige Juden den Krieg in ihrem Versteck überleben konnten. Auf den Leichen der Verstorbenen, begann das Leben neu. Zitiert wird Fritz J. Raddatz, der die Zeit nach der Befreiung wie folgt beschreibt: „Am prächtigsten gedieh mein Gemüse - Salat, Kohlrabi, Radieschen, Dill - über einem Grab.“ Leichen waren damals nichts Ungewohntes, „sie lagen im Mai 1945 in Parkanlagen, am Straßenrand, oft so ausgeplündert, dass nicht zu erkennen war, ob erschossener Soldat oder umgebrachter Zivilist. Geschändete Frauen mit aufgerissenen Mündern, die Goldzähne von Fledderern herausgebrochen. Manche halb verkohlt in den Trümmern verbrannter Häuser. Es war nicht Flieder, noch waren es Hyazinthen, nach denen in diesem Frühjahr die Luft süßlich schmeckte.“ Ernst Reuß Christoph Schmidt, Absturz zur Wirklichkeit, Die Eroberung Berlins 1945, Reihe ZeitgeschichteN, Band 21, Metropol Verlag, Berlin 2020, 212 Seiten, € 19.00 Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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