Wolfgang Benz, eine Koryphäe der Antisemitismusforschung, ist sauer. Zumindest kann man das aus den Beiträgen des Herausgeber des im Metropolverlag erschienenen Sammelband „Streitfall Antisemitismus“ herauslesen. Er ist sauer über eine aus dem Ruder laufende Debatte zum Antisemitismus in Deutschland. Er fragt sich ob Kritik an israelischer Politik tatsächlich bereits antisemitisch sei und plädiert für einen wissenschaftlichen Vergleich von Antisemitismus und sonstigem Hass gegen Minderheiten, denn dies sei keine Relativierung des Holocaust.
Im Sammelband werden von 15 namhaften Historikern und Antisemitismus-Experten die strittigen Thematiken und Begriffe analysiert und erläutert. Man ist dabei zumeist der Ansicht Kritik an Israel wird vorschnell als antisemitisch verunglimpft. Dafür reiche schon der Vorwurf man gäbe Israelfeinden ein Podium. Die Fallbeispiele Dieter Hanitzsch, Jüdisches Museum Berlin und Achille Mbembe werden im Buch ausführlich besprochen und sind abschreckende, verschiedenartige Beispiele dafür, wie Antisemitismus-Vorwürfe auch instrumentalisiert werden und sich verselbständigen können. Immer wieder geht es auch um die BDS (Boykott, Desinvestition and Sanktionen), eine politische Kampagne, die Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will, um die Okkupation von palästinensischen Gebieten zu beenden. Der Deutsche Bundestag verurteilte im Mai 2019 Boykottaufrufe gegen Israel und bewertete die BDS-Bewegung als antisemitisch. „Don't Buy“-Aufkleber auf israelischen Produkten wecken unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole „Kauft nicht bei Juden!“, hieß es. Dagegen wehren sich viele Intellektuelle, auch in diesem Buch. Immer wieder heißt es, einzelne Auswüchse der BDS-Bewegung könne man nicht auf die ganze Bewegung ausdehnen. Das wäre eine pauschale Verurteilung. Ähnlich argumentiert die AFD. Laut Ansicht der Kritiker helfe der Bundestagsbeschluss „der am weitesten rechts stehenden Regierung in der Geschichte Israels, jeden Diskurs über palästinensische Rechte und jede internationale Solidarität mit den Palästinensern, die unter militärischer Besatzung und schwerer Diskriminierung leiden, zu delegitimieren“. Dabei zeige sich wie erfolgreich die israelische Regierung mit der Israelisierung des Antisemitismus-Begriffes geworden sei. Israels Ministerpräsident Netanjahu hatte schon beim jüdischen Museum erfolgreich interveniert. Dadurch sei eine Atmosphäre entstanden, die den Diskussionsraum zunehmend einenge, was laut Benz ein Schaden für die Freiheit der Wissenschaft sei. Man muss nicht mit jedem Beitrag im Buch übereinstimmen, aber der Sammelband ist ein wichtiger Beitrag zu einem sehr konfliktgeladenen Thema. Ernst Reuß Wolfgang Benz (Hrsg.), Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen, Metropol Verlag, Berlin 2020, 328 Seiten, 24 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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