„Ein Ereignis nach dem anderen stellte den Fortbestand der vertrauten Welt in Frage. Angela Merkel, die 1989/90 bereits den Zusammenbruch eines Systems und die Umwälzung ihres gesamten Alltagslebens erfahren hatte, war darauf womöglich besser vorbereitet als andere Politiker.“
So beschreibt der Autor Ralph Bollmann, ein Historiker und Journalist der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, in seinem 800-seitigen Buch „Die Kanzlerin und ihre Zeit“ Angela Merkel. Es ist die Biographie zum Ende ihrer 16-jährigen Amtszeit. In den ersten 100 Seiten widmet er sich ihrer Zeit vor der Politik, auch ihrer Phase als „Hausbesetzerin“ und „Backpackerin“. Es lässt viel von ihrem Wesen erahnen. Während der Wendezeit, mit 35 Jahren, dann ihr Sprung in die Politik. Bollmann beschreibt auch da detailliert die wichtigsten Momente. Vom Beginn im „Demokratischen Aufbruch“, zur stellvertretende Regierungssprecherin in der 1990 frei gewählten Regierung der DDR, zur Bundestagsabgeordneten bei der ersten gesamtdeutschen Wahl am 2. Dezember 1990. Die Blitzkarriere ging danach fast ungebremst weiter. Nur ein Jahr nach ihren ersten politischen Gehversuchen und ihres Eintritts in die CDU war sie Ministerin und Parteivize. Bundeskanzler Kohl förderte die für ihn vermeintlich ungefährliche Frau aus dem Osten. Es folgten Lehrjahre, aber schon 1998 war sie Generalsekretärin der CDU und im Jahr 2000 Vorsitzende der Partei, nachdem sie sich von Kohl nach dessen Spendenaffäre gelöst hatte. 2005 wurde sie dann Kanzlerin und niemand hätte gedacht, dass sie das in den nächsten 16 Jahren bleiben würde. Bollmann beschreibt ihren Werdegang sehr akribisch, mit allen Winkelzügen und parteipolitischen Intrigen. Erstaunlich aber, dass er bei der von Schröder initiierten vorgezogenen Neuwahl mit keinem Wort eine in Gründung befindliche neue Partei erwähnt, die möglicherweise auch zu Schröders Entschluss beigetragen hat. PDS und Linke sind für Bollmann kaum eine Erwähnung wert. Sein Blick richtet sich eher nach rechts. Die AfD, Hass und Hetze nimmt er ausführlicher wahr. Bollmann beschränkt sich bei seiner Analyse ansonsten hauptsächlich auf die von ihm wahrgenommenen Altparteien. Ein gewisses Verständnis für den „besorgten Bürger“ scheint der Autor möglicherweise zu haben, wenn er von einem „728-prozentigen Anstieg“ des Ausländeranteils in Thüringen zwischen 1991 und 2018 spricht. Weniger effektheischend und sachlich richtig wäre es gewesen, wenn man die weitaus weniger beeindruckende Anzahl von ausländischen Mitbürgern in Thüringen genannt hätte, wo vor der Wende kaum ein Ausländer lebte. Auch heute noch ist der Ausländeranteil in Thüringen der geringste aller Bundesländer. Einige Seiten lang beschäftigt er sich auch mit Merkels Frisur und Kleidung. Aber er zeichnet auch das Bild einer klugen und ruhigen Pragmatikerin, deren Gegner sich meist selbst erledigten. Ausführlich werden schließlich die Jahre der Krisen beleuchtet, in denen Merkel zur Weltpolitikerin und Krisenmanagerin reifte und sich in den Finanz-, Euro-, Ukraine-, Griechenland- und „Flüchtlingskrisen“ bewährte. Krisen über Krisen! Nicht zu vergessen dabei der Brexit, Donald Trump und Corona. Im Rückblick wird erst deutlich, welch immenses Pensum Angela Merkel geleistet hat und was es heißt derart lange Kanzlerin zu sein. Bollmann arbeitet Jahr um Jahr, Ereignis um Ereignis, Krise um Krise akribisch auf und eine weltweiten Riege von inzwischen wohl weitgehend vergessenen, sich überaus wichtig wähnende Politiker ziehen an einem vorbei. Das Buch zeigt eine außergewöhnliche Frau, die ein ganzes Zeitalter entscheidend mitgeprägt hat. Die Biografie endet mir dem Satz: „Einiges deutet darauf hin, dass sich viele Menschen nach dieser Stabilität bald zurücksehnen werden.“ Er meint damit Merkels sachliche, ruhige und unaufgeregte Politik. Möglicherweise wird das bald genauso sein. Ernst Reuß Ralph Bollmann, Angela Merkel, Die Kanzlerin und ihre Zeit, C.H. Beck Verlag, München 2021, 800 Seiten, 29,95 EUR Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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