Bislang wurde über die „Kristallnacht“, die heute als Novemberpogrom bezeichnet wird, viel aus unterschiedlichen Perspektiven gesprochen. Wird der Fokus jedoch auf ein ganz normales Dorf gerichtet, wird das was damals geschah unmittelbar erfahrbar. Die Nazipropaganda hatte Erfolg und der Judenhass brach sich nicht nur in großen Städten, sondern auch in kleinen Gemeinden Bahn. Die Synagogen von Nürnberg, München oder Kaiserslautern waren schon lange vor der „Kristallnacht“ abgerissen worden. Aus Nachbarn waren nun Juden geworden. Die Saat des Hasses ging auf, Juden waren inzwischen die „Sündenböcke“ für alles was schief lief im Leben so manches Volksgenossen.
Sven Felix Kellerhoff zeigt dies am Beispiel des rheinhessischen Weindorfes Guntersblum, einem kleinen idyllischen Weinort zwischen Mainz und Worms, mit einer über tausendjährigen Geschichte. Während es für ganz Deutschland nur vereinzelt Fotos der Ereignisse gab, ist das Geschehen in Guntersblum außerordentlich gut dokumentiert. Ein von den Nazis inszenierter Ausbruch von „spontaner“ Gewalt. Selbst die Kinder bekamen schulfrei, um beim „Demütigungsmarsch“, der seit Jahrzehnten in der Ortschaft lebenden Juden, dabei zu sein. Aufgehetzt von ihren erwachsenen „Vorbildern“ wurden die jüdischen Dorfbewohner auch von 10-jährigen Kindern gedemütigt und angespuckt. Danach plünderten und verwüsteten die örtlichen Wutbürger die Wohnungen ihrer jüdischen Dorfnachbarn. Was wertvoll war schleppten sie mit. Nach dem Krieg behauptete man, es seien alles fremde Nazis gewesen, die extra herangekarrt worden waren. Ein auch heutzutage wohlbekannter Exkulpationsversuch. Doch diesmal gab es Fotos, die das Geschehen dokumentierten und im Buch abgedruckt sind. Kellerhoff identifiziert und benennt sowohl die Täter als auch die Opfer. Die meisten jüdischen Einwohner kamen nicht mehr in ihre verwüsteten Wohnungen zurück. Einige waren schon vorher in größere Städte gezogen, wo sie anonymer leben konnten und somit nicht unmittelbar dem wachsenden Hass ihrer Nachbarn ausgesetzt waren. Was in Guntersblum geschah, war keine Ausnahme. In über tausend Ortschaften gab es ähnliche Übergriffe. Synagogen wurden zerstört, Wohnhäuser verwüstet und die andersgläubigen Ortsbewohner verschleppt, soweit sie nicht rechtzeitig flüchten konnten. „Ein ganz normales Pogrom. November 1938 in einem deutschen Dorf“ ist aber auch ein Buch über die Vorgeschichte des wachsenden Hasses, die Folgen des Ersten Weltkrieges mit der Wirtschaftskrise und einer Partei, die auch in der Provinz daraus Kapital schlug. Man kann durchaus einige Parallelen zu heutigen Zeiten erkennen. Kellerhoffs Buch endet nicht mit der Nazizeit. Er beschreibt auch noch die nachfolgende Aufarbeitung, die spät, eigentlich erst 2008 nach einem Zeitungsartikel, begann. Selbst in besten Wirtschaftswunderzeiten wurde der jüdische Friedhof in Guntersblum noch geschändet. Juden gab es da schon lange nicht mehr im Ort. Das Buch zeigt, wie sich im scheinbar normalen dörflichen Leben das Gift des Antisemitismus ausbreitete, wie die Situation eskalierte und wie das alles bis heute noch nachwirkt. Eine ernsthafte Aufarbeitung erfolgte nach dem Krieg für sehr lange Zeit nicht. Erst seit April 2011 erinnern 23 Stolpersteine auch in Guntersblum an NS-Verfolgte. Eine Aktion, die damals sehr umstritten war und der eine sehr kontroverse politische Auseinandersetzung im Gemeinderat vorausgegangen sein soll. Ernst Reuß Sven Felix Kellerhoff, Ein ganz normales Pogrom, November 1938 in einem deutschen Dorf. Klett-Cotta 2018, 244 Seiten, 22,00 EUR Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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