„Noch existierten keine Privatsender und keine DFL, die des Kommerzes wegen die Kickerei in absurde Bedeutungshöhen jazzen.“
Das schreibt der Autor Bernd-M. Beyer in seiner wunderbaren Zeitreise „71/72, Die Saison der Träumer, Schieber, Spieler und Rebellen“ in der er sowohl vom Fußball, als auch von der sehr bewegten Zeit in diesen Jahren schreibt. 1971 wird nicht umsonst „aufmüpfig“ zum Wort des Jahres. In seinem Buch verwebt Beyer auch die Lebensgeschichte zweier jung gestorbener Träumer: Stan Libuda und Rio Reiser. „An Gott kommt keiner vorbei. Nur Libuda“, stand auf einigen Gelsenkirchener Mauern - während Reiser sang: „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen. Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen“. „Der Traum ist aus“ hatte letzterer damals in anderem Zusammenhang ebenfalls getextet. Der Traum vom romantischen Fußball scheint inzwischen jedenfalls tatsächlich ausgeträumt. Als Paul Breitner, der mit der „Peking-Rundschau“ unterm Mao-Poster posiert hatte, in der WG von Rio Reisers Band Ton Steine Scherben in Berlin-Kreuzberg auftauchte, weil die ihm ihr Album „Keine Macht für Niemand“ geschickt hatten, schlief Rio, der sich nicht für Fußball interessierte, tief und fest. Für denjenigen, der sich an die Zeit noch erinnern kann, bleibt der damalige Fußball mit Netzer, Breitner und Co. - trotz darauf folgender WM Titel - das fußballerische Maß aller Dinge, gerade weil einen der heutige durchkommerzialisierte Hochglanz-Fußball um Ronaldo selten so richtig anfasst. Das Spiel im Wembley Stadion von 1972, zwei Tage nach dem Misstrauensvotum gegen Willy Brandt und die darauffolgende Europameisterschaft bleiben unvergessen. Das Gute und Schöne schien zu siegen. Doch es war auch die Zeit des Fußballbundesligabestechungsskandals und der vielen „Hater“, die sich hauptsächlich über die Frisuren der Nationalspieler ausließen. Damals noch mit der Deutschen Bundespost, Internet gab es noch nicht. Bundestrainer Schön sammelte die Briefe. Man wünschte sich den akkuraten Haarschnitt der Weltmeister von 1954 zurück. Ähnliches geistert ja auch heute durch das Internet, wenn man sich die Hautfarbe der Spieler von 1974 zurückwünscht. „Fake News“ hieß es damals noch nicht, aber was dem „Volksverräter“ Brandt vorgeworfen wurde, war genau das: Pure Hetze. Schon damals tat sich die Bildzeitung diesbezüglich besonders hervor. Zwei der Hauptopfer wurden später zu Nobelpreisträgern gekürt. Neben Willy Brandt, dem „Vaterlandsverräter“ wurde auch Heinrich Böll, der „Helfershelfer“ der Terroristen vom Nobelkomitee ausgewählt. Während ehemalige SS-Männer hohe Funktionärsposten hatten, wurde verfemten jüdischen Nationalspielern keine Erinnerung zuteil. Zumindest wird 1972 der letzte überlebende jüdische Nationalspieler Gottfried Fuchs nicht zu einem Länderspiel eingeladen. Das Präsidium des DFB, in dem einige ehemalige Nazis saßen, lehnte den Vorschlag vom ehemaligen Bundestrainer Sepp Herberger ab, um keinen „Präzedenzfall“ zu schaffen. Beyers Buch umfasst hauptsächlich bundesrepublikanische Geschichte aus dem Zeitraum von der Enthüllung des Bundesligaskandals im Juni 1971 bis zum 5. September 1972, als palästinensische Terroristen das Olympische Dorf in München überfielen und das gut gemeinte Veranstalterkonzept der fröhlichen Spiele zunichte machten. Eine Gesellschaft war jedenfalls in Bewegung geraten und es ist eigentlich kaum zu glauben, dass einige Jahre später in der in Mogadischu befreiten „Landshut“-Maschine Horst-Gregorio Canellas saß, der im Juni 1971 den Bundesligabestechungsskandal ausgelöst hatte; und dass dieser Canellas danach sagte: „Mogadischu hatte noch menschliche Züge. Der Skandal war schlimmer, viel schlimmer.“ Ernst Reuß Bernd-M. Beyer, 71/72, Die Saison der Träumer, Schieber, Spieler und Rebellen, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2021, 352 Seiten, 22 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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