Nach dem Krieg wollte niemand mehr dabei gewesen sein. Plötzlich waren die meisten Deutschen schon immer gegen die Nazis gewesen und klammheimlich im Widerstand aktiv.
Ganz anders Eva Sternheim-Peters. Sie schreibt in ihrem Buch: „Ich bin nicht mitgelaufen, sondern begeistert mitgestürmt.“ Es ist die „Lebensbeichte“ der 1925 geborenen Frau, deren Buch bereits 1987 unter einem anderen Titel veröffentlicht und nun unter dem Titel: „Habe ich denn allein gejubelt?“ überarbeitet und neu verlegt wurde. Es ist die Geschichte einer Frau aus Paderborn, die noch beim Einmarsch der Amerikaner eine überzeugte Nationalsozialistin war. Das Buch erzählt sowohl von der Verführbarkeit von Menschen, als auch von Antisemitismus und Fremdenhass in der Provinz. Parallelen zu heute sind dabei unverkennbar. Weder das Unheil der älteren Brüder – beide überzeugte Nazis – die im Krieg sterben, noch das traurige Schicksal der jüdischen Verwandtschaft und jüdischer Klassenkameradinnen hatten sie von ihrem Irrglauben abbringen können. Erst später begriff sie entsetzt, wo sie da „mitgestürmt“ war. Sie selbst schreibt in ihrem Vorwort, dass ihr Buch keine Autobiografie sei, „sondern ein subjektives Geschichtsbuch, in dem zwei Jahrzehnte deutscher Innen- und Außenpolitik mit Erinnerungen, Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen eines Kindes, einer Heranwachsenden und ihrer Umwelt belegt, politische und menschliche Verhaltensweisen damaliger Zeitgenossen weder gerechtfertigt noch entschuldigt, sondern nachvollziehbar dargestellt werden.“ Die Nachkriegszeit änderte ihre Einstellung zum Nationalsozialismus und Antisemitismus grundlegend. Im Vorwort führt sie dazu aus: „Seinerzeit für belanglos erachtete Erlebnisse wurden erst unter dem Eindruck von Nachkriegsinformationen zu Schlüsselerlebnissen, flüchtige Gedanken, vage Gefühle erhielten erst nachträglich eine politische Bedeutung.“ Auschwitz hatte sie auch lange nach dem Krieg für ein Gräuelmärchen gehalten. Erst mit der „Re-Education“ erkannte sie ihren Irrtum. Nach dem Krieg arbeitete sie als Psychologin und heiratete 1968 einen jüdischen Maler und Publizisten. Das 784-seitige Buch ist aufgrund der Ehrlichkeit der Autorin als Zeitdokument sehr interessant, aber mitunter leider etwas langatmig, da zu ambitioniert alle der Verfasserin am Herzen liegenden Thematiken aufgegriffen wurden. Störend wirkt auch, dass die Autorin von sich nur in der dritten Person spricht, als ob sie sich von sich selbst distanzieren möchte. Ernst Reuß Die Zeit der großen Täuschungen. Mädchenleben im Faschismus, 1987. Ab der 5. Auflage überarbeitet, aktualisiert und erweitert: Habe ich denn allein gejubelt? Eine Jugend im Nationalsozialismus. Berlin 2012. 784 Seiten, gebunden, 24,99 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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